Wenn ich morgens aufwache hoffe ich, daß es ein aufregender Tag wird, wenn die Nacht es schon nicht war. Doch wie heißt es? „Bedenke deine Wünsche, sie könnten in Erfüllung gehen!“
Der Tag begrüßt mich mit einem blauen Himmel, nur wenige Wölkchen, und es ist nicht mehr so heiß wie in den letzten Tagen. Prima, denke ich, da kann ich ein paar Wege erledigen ohne zu schwitzen, und überhaupt, heute mache ich nur ganz wenig, und garantiert nichts, was mich anstrengt. So schlendere ich gut gelaunt durch die Stadt, bleibe hier und da stehen, schaue und genieße den Tag. Auf dem Heimweg verdunkelt sich der Himmel, einige Tropfen fallen schon, und zum Schluß muß ich mich sogar sputen, um nicht naß zu werden. Was soll’s, sage ich mir, ich bin im schützenden Haus, hoch genug, um vor jedem Hochwasser sicher zu sein. Mit einem Kaffee mache ich es mir auf dem Balkon bequem und schaue dem beginnenden Unwetter zu. Alle Gewitter der letzten Wochen machten seltsamerweise einen Bogen um mein Wohnhaus, rechts und links zuckten die Blitze und es regnete, aber direkt über meinem Haus blickte ein wolkenloser Himmel auf mich herab. Heute aber scheint es anders zu sein, plötzlich kommt ein heftiger Wind auf und jagt mich ins Zimmer. Der Regen gleich darauf fällt so dicht, daß ich kaum noch die Häuser auf der anderen Straßenseite sehe. Innerhalb kurzer Zeit spülen reißende Bäche den Straßendreck weg. Endlich, denke ich, endlich wird die Straße mal richtig sauber. Doch das Wasser ist zu viel für die Kanalisation, brodelnd sprudelt es aus den Schächten hervor. Was für ein Schauspiel! Autos bleiben stehen, Menschen suchen unter dem Dach der nahen Tankstelle Zuflucht; längst ist die Straße nicht mehr zu sehen, ja selbst die Bordsteine und die Rasenflächen vor dem Haus sind unter einem großen See verschwunden. Die Feuerwehr rückt aus, ein Lkw der Müllabfuhr bahnt sich tapfer einen Weg durch die Fluten und verschwindet hinter dem Regenvorhang. Ein leichtsinniger Radfahrer mit Regenschirm in der Hand versucht, die Wasserwüste zu durchqueren, scheitert aber an einem unsichtbaren Hindernis und steht bis an die Waden im Wasser. Ich hole mir noch einen Kaffee und beobachte fasziniert, wie die Welt vor meinem Fenster untergeht. Über Twitter dürfen alle daran teilhaben.
Natürlich sollen sie auch erfahren, wie es auf der anderen Seite des Hauses aussieht. Ob die Rasenfläche, über der sonst meine Wäsche zum Trocknen hängt, wohl ebenfalls unter Wasser steht? Es regnet noch immer, allerdings schon deutlich weniger. Ich stecke vorsichtig meinen Kopf aus dem Fenster und erschrecke. Aus den Hauseingängen springen Menschen mit Wassereimern hervor, entleeren sie und verschwinden eiligst wieder. Wassereinbruch im Keller! schießt mir durch den Kopf, gleichzeitg versuche ich, mich zu erinnern, welche Schätze in meinem Keller bedroht sind. Alte Kontoauszüge? Verjährte Steuererklärungen? Verblasste Hochzeitsbilder, von denen ich nichtmal mehr das Datum weiß? Mein Fahrrad ist Nässe gewohnt, weiterer Schaden ist nicht zu befürchten, außer, daß die Entsorgung feuchten und modernden Papiers wohl mehr Zeit kosten wird als jetzt mal nach dem Rechten zu sehen. Erleichtert stelle ich fest, daß mein Keller trocken ist, aber die alte Dame, die unter mir wohnt, kämpft mit dem Besen gegen die Pfützen in ihrem Keller. Der ist allerdings in entgegengesetzter Richtung abschüssig, sodaß sie nur mühsam vorankommt. Mit Eimer und Müllschippe dränge ich mich ihr auf, nach zehn Minuten ist die Flut gebannt, der Rest wird bald verdunstet sein. „Keine Ursache!“ entgegne ich leichthin auf ihren Dank und will wieder hinauf gehen, inspiziere allerdings noch die Kellerräume auf der anderen Seite des Treppenhauses. Dort kniet meine Nachbarin im Wasser und schöpft ebenfalls mit der Müllschippe zwei Eimer voll, die sie dann hinauf zum Eingang schleppt. Der Mieter von rechts unten, (mit ihm bin ich per Du, weiß aber nichtmal seinen Namen, auf dem Türschild steht Grünert/Jochhagen) fegt ihr das Wasser zu, aber aus demselben Grund, wie auf der anderen Seite, fließt es immer wieder zurück. Ich schmettere ein frohes „Moin!“ (es ist 15 Uhr) in den Keller und beteilige mich wortlos. Währenddessen schwatzen die beiden angeregt miteinander über ihre Erlebnisse in diesem Haus. „Evi, das ist ja das erste Mal, daß hier das Wasser steht!“ „Ich wohne ja erst acht Jahre hier.“ „Ich von Anfang an. 68 ist das Haus gebaut, da sind wir gleich eingezogen.“ „Dann kennst Du ja die Leute hier.“ „Und wie! Wer schon alles hier gewohnt hat! Erinnerst Du dich an die Nazis da oben?“ „Nazis waren das?“ „Na, jedenfalls hatten sie Glatzen und waren überall tätowiert. Die haben dauern lautstark gefeiert. Dann gabs Streit und sie haben sich gekloppt, die Polizei kam und nahm sie mit vor’s Haus. Dort haben sie sich wieder vertragen, sind wieder rauf und haben weiter gesoffen.“ „Und die leeren Pullen habe sie gleich aus dem Fenster gehaun!“ „Bei denen war immer war los! Aber die haben nicht lange hier gewohnt, drei, vier Monate, glaub ich.“ Wir schaufeln und laufen, schütten aus und schaufeln wieder. Das Wasser scheint eher mehr als weniger zu werden. Ich erfahre nebenbei die Ereignisse der letzten Jahre. Und etwas über meine Nachbarin, die ich nur selten treffe. Offensichtlich ist sie Schichtarbeiterin. „Ich brauche ’ne Pause!“ ruft sie plötzlich. „Will jemand ein Bier?“ „Ich lasse mich gern einladen!“ sage ich. Wir prosten uns zu und wischen nach den ersten Schlucken den Schweiß aus dem Gesicht. Dann wendet sich der Mann von unten rechts mir zu und sagt: „Und in Deiner Wohnung hat’s gebrannt!“ „Was?“ entgegene ich erstaunt. „Ist doch gar nichts zu sehen! Wann war denn das?“ „2008, wa, Evi?“ „Ja, ich war auf dem Balkon, es roch irgendwie verschmort. Ich dachte, die hat ihre Zigarette nicht ausgemacht, die hat doch immer auf dem Balkon geraucht, da stand doch der Aschenbecher in der Ecke.“ „Ich habe bei der Besichtigung keinen gesehen“ sage ich, „vor mir wohnte doch ’ne junge Frau drin, der der Freund abhanden kam.“ „Das war schon vor ihr. Pötzlich war alles schwarz, der Balkon und das Wohnzimmer. Die Wohnung stand dann mindestens sechs Monate leer.“ Das erklärt den unterschiedliche Fußbodenbelag in den Räumen, denke ich. Mittlerweile haben wir die Flaschen geleert und die Arbeit wieder aufgenommen. Das Wasser wird weniger, inzwischen sind wir nur noch zu zweit, der Besen wird nicht mehr gebraucht. „Jetzt muß ich alles ausräumen“ sagt die Nachbarin, „zum Glück ist das Holz trocken geblieben.“ Sie sieht meinen fragenden Blick, schließlich wohnen wir im Hochhaus mit zentraler Wärmeversorgung. „Meine Freundin und ich wollen ein Lagerfeuer machen und Würstchen darin braten. Aber sie hat nie Zeit!“ Wir schieben gemeinsam Sachen hin und her, ich frage: „Kann ich noch etwas für Sie tun oder kommen Sie zurecht?“ Sie hält mir die Hand hin: „Ich bin Evi.“ „Fein, in bin Ronald.“ „Ein Bier schaffen wir noch, oder?“ „Ja, klar!“ Der Mann von unten rechts schaut – frisch geduscht – nochmal vorbei. Er scheint zufrieden mit dem Ergebnis. Wir nehmen unsere Gerätschaften und gehen nach oben, dabei den Geruch nach Schweiß, nassen Klamotten und Bier verbreitend. Vor unseren Wohnungen verabschieden wir uns: „Bis demnächst mal!“ „Ja, und hoffentlich unter besseren Umständen!“.
Beim Aufschließen drehen wir uns nochmal um. „Ach, übrigens,“ sage ich, „wenn Du mal jemanden brauchst, der ein Lagerfeuer anzünden und Würstchen am Stock braten kann – einfach klingeln!“
Ein nasses Erlebnis… Eine schöne Geschichte : )
Danke! Ich denke, es werden noch trockene Erlebnisse folgen 😉