illusion

Majestätisch schwebte der Adler am Himmel. Nicht immer gelang es ihm, die Maus oder gar den flüchtenden Hasen zu schlagen. Er war hungrig, sah aber Dinge, die andere niemals sehen würden. Das Huhn, das die Körner pickte, die der Bauer ihm gestreut hatte, bewunderte den kühnen Flug des Adlers. „Ach“, sprach es, „wenn ich doch nur einmal sehen könnte, was der Adler sieht!“ Der Adler rief ihm zu: „Laß deine Körner, breite die Flügel aus und steige empor! Ich will dir die grenzenlose Freiheit zeigen!“ „Ja – aber mein Futter!“ antwortete das Huhn.

Bedächtig faltete er den Brief wieder zusammen und hielt ihn in die Flamme der Kerze. Er kannte ihn auswendig. Jeden Abend hatte er ihn gelesen, das Papier mittlerweile war brüchig geworden und die Schrift verblaßt. Was war nur geschehen? Zu lange hatte er sich mit der Vergangenheit beschäftigt, es war Zeit, nach vorn zu sehen.

Der November sparte nicht mit kaltem Wind. Auch ihn hatte er von der Straße getrieben. Gern wäre er noch umher gestreift, um die beginnende Spannung zu unterdrücken. Er hoffte, dieser Abend würde aufregend werden, denn langsam, sehr langsam zwar, aber unaufhaltsam und unerbittlich wie das Pendel einer Uhr glitt sein Leben dem Ende entgegen. Manchmal, so sagte er, sähe er „wie die Zielfahne geschwenkt würde“. Er lebte gern, und er wollte sich nicht geschlagen geben, ehe er nicht noch dem Leben einen Genuß abgetrotzt hätte.

Das, aber nicht allein das, war der Grund für dieses Treffen. Die Frau, die auf seine Annonce geschrieben hatte, mußte mindestens genauso verrückt sein wie er.

Als er sie sah fühlte er sich sofort wie ein Konfirmand – zu schüchtern, seine Angebetete anzusprechen. In ihrem Brief hatte sie sich selbst als optimistisch und unwiderstehlich bezeichnet, ihm hingegen erschien sie faszinierend und begehrenswert. Ihre Augen strahlten auf unbeschreibliche Weise Wärme, aber auch eine unbestimmte Reserviertheit aus, die ihn sofort gefangen nahm.

Sie sprachen über ihre Macken, redeten über ihre Träume und Wünsche, betrachteten das Leben von allen Seiten, und er konnte seine Augen nicht von ihr wenden. Ihr Lachen und ihre Grübchen ließen seinen Verstand zu einem kümmerlichen Rest schmelzen. Er spürte, wie er ihr erlag. Dabei teilte sie nicht einmal seinen Musikgeschmack, las nur selten ein Buch und konnte sich auch an die einzige Oper, die sie jemals gesehen hatte, nicht erinnern. Aber so begierig, wie sie seinen Worten lauschte und seinen Ansichten über das Leben folgte, fühlte er, sie könnte die Frau sein, die seine Träume und Sehnsüchte verstehen und vielleicht sogar teilen würde.

Rational betrachtet“, pflegte er gern zu sagen, „ist Liebe nichts anderes als das Leben verkomplizierende Biochemie“. Aber als sie ihm erzählte, daß sie oft in Gedanken stundenlange Dialoge führe, machte sein Herz einen Satz. Sie wußte, wie es ist, nicht in den Schlaf zu finden! Er fühlte sich ertappt und getröstet zugleich. Augenblicklich fiel ihm Heine ein:

Keiner ist so verrückt, daß er nicht einen noch Verrückteren fände, der ihn versteht.“

Konnte es sein, daß sie ihn verstand? Trotzdem spürte er, wie sie zurückhaltend, vielleicht sogar mutlos war. Sie glaubte wohl, wenn sie ihr bisheriges Leben hinter sich ließe, würde sie ihren hart erarbeiteten Wohlstand nicht halten können. Ihren Wohlstand konnte er nicht schützen, doch er wollte ihr zeigen, wie seine Zuneigung, seine Gefühle und beider Hingabe ihr Leben dennoch bereichern würden. Ihr Leben würde zuletzt Gewinn sein – Gewinn für ihre Seele.

In dem kleine Café waren sie als einzige Gäste übrig geblieben. Als der Kellner mit der barschen Bemerkung, nun endlich schließen zu wollen, die Rechnung brachte, mußten sie sich trennen. Sie verabschiedete sich von ihm mit einer langen Umarmung, und erklärte, diesen Weg mit ihm gehen zu wollen. Dann ging sie.

Er hatte nicht gefragt, wann dieser Weg beginnt. Als er sich besann und noch einmal zu ihr umdrehte, war sie bereits seinen Blicken entschwunden. Ihren Namen hatte sie nicht verraten. Niemals wieder hörte er von ihr.

„… mit diesem – EINEN – träumen, reden, versinken …“ waren die letzten Worte ihres Briefes. Worte unausgesprochener Sehnsucht. Am Ende, dachte er, war die Sehnsucht unterlegen. Den sicheren Körnern.

manuel

Die folgende Geschichte ist eine wahre Begebenheit mit realen Personen. Bitte lesen Sie sie mit Respekt.

Sieben Sitze hat der Kleinbus, sieben Kinder fahren täglich mit mir zur Schule. Eigentlich müßte es „fuhren“ heißen, denn im Laufe des Schuljahres werden es weniger, zudem wechselt der Personenkreis fast täglich. Die Kinder sind häufiger krank als andere Kinder, müssen auch mal für einige Zeit ins Krankenhaus, denn sie sind das, was wir „behindert“ nennen. Dabei ist es eigentlich die Gesellschaft, die sie hindert, am Leben teilzunehmen, indem sie gedankenlos einen Teil ihrer Mitglieder ignoriert.

Einer meiner ständigen Fahrgäste ist Manuel, ein blonder, aufgeweckter Junge, der aber leider nur Laute ausstoßen kann. Seine Arme und Beine hingegen sind fast ständig in Bewegung, besonders, wenn er auf etwas aufmerksam machen will, wenn er sich freut oder auch unzufrieden ist. Wann immer es geht sitzt er vorn neben mir, denn er mag es, auf die Straße und die Umgebung zu schauen und zu sehen, was ich da tue. Die bunten Knöpfe und Armaturen interessieren ihn besonders, er möchte immer irgendwo drauf drücken, doch sein Sicherheitsgurt hält ihn fest auf seinem Platz, so muß er sich damit begnügen, mir bei der Arbeit zuzuschauen. Sobald wir abfahren wollen beobachtet er interessiert, wie ich den Motor starte, den Blinker einschalte… Seine Mutter winkt vor dem Fenster, er sieht sie nicht mehr. Vergessen sind auch ihre Ermahnungen, seine Mütze bis zur Schule auf dem Kopf zu lassen. Spätestens nach der nächsten Kurve – zack, ist sie ab! Natürlich bewegen sich seine Arme dabei heftig durch die Luft. Wenn seine Bewegungen zu sehr in meine Richtung gehen, rufe ich manchmal spaßhaft: „Manuel, Du oller Zappelphilipp, gib mal Ruhe!“ Dann muß er lachen, stößt hohe Freudenschreie aus und kann erst recht nicht ruhig sein. Manchmal fürchte ich, daß ihm das Armaturenbrett zum Opfer fällt.

Ist der Platz vorn schon besetzt, sitzt er hinter mir. Während einer solchen Fahrt spürte ich plötzlich, wie etwas leicht an meinen Haaren zog. Sie sind länger und werden durch ein Band zusammengehalten. Unwillig schüttelte ich den Kopf in dem Glauben, daß die Haare sich in der Kopfstütze verfangen hätten. Kurze Zeit darauf zog es schon wieder! Vorsichtig drehte ich an der nächsten Ampel den Kopf – Manuel saß mit ausgestrecktem Arm und streichelte unglaublich sanft und hingebungsvoll meine Haare! „Ach Manuel,“ dachte ich gerührt, „was bist Du doch für ein Wunderknabe!“

Auf der Fahrt zur Schule steigen noch weitere Kinder zu. Manuel ist inzwischen ruhiger geworden und versucht, was im Auto so herumliegt – Stadtplan, Zeitung, manchmal Handschuhe – in die Finger zu bekommen. Er kann flink sein, der Manuel! Nur das Einsteigen macht ihm Schwierigkeiten. Statt morgens hinter dem Lenkrad zu sitzen, steige ich lieber aus, um im Notfall zufassen zu können. Seine Mutter hilft ihm beim Einsteigen, es geht mühsam: „So, das linke Bein nach oben, jetzt das rechte. Strecken, Manuel, der Po muß hoch!“. Ich sehe zu und rufe: „Los, hoch den Arsch!“, da geht gleich gar nichts mehr, denn Manuel muß lachen. Wenn er lacht, kann er nicht steigen. Klar dauert dadurch alles länger, aber sein Lachen ist es wert. Ich komme lieber später an der Schule an, als auf das Lachen dieser Kinder zu verzichten. Wie oft können sie das?

Nun sind erstmal sechs Wochen Ferien, danach sehen wir uns wieder. Ich freue mich schon darauf. Manuel hat mir schon „gezappelt“, daß er sich auch freut.

leinöl – oder: frauen hören auch nicht zu

Den Männern sagt man nach, daß sie nicht zuhören, aber diese Geschichte wird zeigen, daß es kein rein männliches Problem ist. Doch der Reihe nach:

Der Tag verspricht ein schöner Spätsommertag zu werden, vielleicht der letzte im September. Nur ein paar kleine Wölkchen sind am Himmel, kein Regen in Sicht, der Wetterbericht gibt 25° als Höchsttemperatur vor. Ein Tag, wie geschaffen für eine Radtour in den Spreewald. Für einen Wettbewerb brauche ich noch einige gute Fotos von Spiegelungen. Vielleicht sind ja auch schon ein paar Blätter gefärbt, das macht sich immer ganz gut in Verbindung mit Wasser. Also lade ich meine Ausrüstung sowie ausreichend Getränke und Verpflegung für den Tag aufs Rad. Die Straupitzer Mühle ist bekannt für ihr schmackhaftes Leinöl, sie liegt gewissermaßen am Weg, etwas mehr als 20 km von mir entfernt. Das kann ich gut verbinden. Das Internet bestätigt trotz meiner Zweifel, daß die Mühle heute geöffnet ist. Gut gelaunt starte ich. „Heit is so a schiener Doag, na-na-na-nana…“ Ein bayerisches Kinderlied, vor einigen Jahren zum Wiesn-Hit avanciert, geht mir dabei durch den Kopf. Seltsam, daß einem immer die Dinge, an die man sich nicht erinnern möchte, zuerst einfallen. Ich muß mal einen Gehirnforscher fragen, wie man das ändert, wenn es überhaupt möglich ist. „Heit is so a… “ Nein, hör‘ doch auf! Heute ärgern mich nicht einmal die Pkw-Fahrer, die widerrechtlich den Radweg durch den Wald als Abkürzung nutzen.

Es ist wärmer als ich dachte. Also halte ich mal an, um etwas zu trinken und die Jacke auszuziehen. Hinter mir hält ein älteres Paar, auch auf Fahrrädern ohne Motor, wie ich anerkennend feststelle, unterwegs. Kürzlich überholte mich an einer Steigung, bei der ich schon etwas pusten mußte (naja, Gesamtgewicht meines Rades 130 kg) ein dürrer Senior ziemlich mühelos – ich wollte schon fragen, was er eingenommen hat. Da sah ich den Elektromotor. Ist das noch radfahren? Nicht für mich. Aber dazu ein andermal. Das Paar sucht nach einem Weg, die Frau liest laut die Schilder vor. „Cottbus!“ ruft sie, „da geht’s nach Cottbus!“ „Den kann ich nicht empfehlen!“ schaltete ich mich ungefragt ein, denn ich weiß, daß der Weg nach ein paar Kilometern zu einer üblen Schotterpiste wird. „Wir wollen nicht nach Cottbus“ sagte der Mann, „wir wollen zu dem Turm da!“ Er meint den Bismarck-Turm. „Ja,“ sag ich, „wenn Sie geradeaus weiter fahren, kommen Sie genau hin.“ „Und dann gibt’s doch noch das mit den Weiden da…“ „Sie meinen den Weidendom? Der ist gleich gegenüber, den können Sie nicht verfehlen.“ „Danke. Wir wollen dann weiter nach Straupitz zur Mühle, da waren wir mal vor 10 Jahren.“ „Da will ich auch hin, aber ich fahre hier links ab.“ „Wir wollen ja erst zum Turm.“ Ich erkläre ihnen die besten Wege, die Beiden bedanken sich freundlich und setzen sich wieder in Bewegung. Die Frau ruft mir fröhlich zu: „Wir sehen uns!“ Ich rufe zurück: „Na, ich bin eher da!“ Keine halbe Stunde dauert es, bis ich die Mühle erreiche. Die Tür steht offen, aber nicht die beiden Tore am Zaun. Sollte die Mühle und der kleine Laden mit Gaststätte doch geschlossen sein? Kein Mensch ist zu sehen, das Gelände leer, nur vor dem Tor, an dem ich stehe, lädt ein Lkw-Fahrer Baustoffe ab. Am Laden ist ein Schild, das den Montag als Schließtag ausweist. So ein Pech! Gut, daß der Leinölkauf nicht mein einziges Vorhaben ist, ich hätte mich sonst geärgert. Während ich noch unentschlossen hin und her laufe und dabei überlege, ob wohl der Gemüseladen Leinöl der Mühle führt, fährt ein Pkw durch das zweite Tor. Eine junge Frau umrundet das Haus und öffnet die Tür des Ladens. „Hallo junge Frau!“ rufe ich ihr zu, „wer pflegt denn die Öffnungszeiten im Internet? Die unterscheiden sich von Ihrem Schild hier!“ „Im Internet stehen die richtigen Zeiten.“ „Nein, da steht, daß montags geöffnet ist, was aber nicht stimmt.“ „Dann müssen Sie den Chef fragen, der ist aber heute nicht da, wir haben geschlossen!“ Das blieb mir nicht verborgen. „Wie kann ich ihn erreichen?“ „Er ist heute nicht da, wir haben geschlossen!“ Ob die Wiederholung etwas daran ändert? Inzwischen ruft der Lkw-Fahrer: „Ist das hier für Euch, 11a?“ „Ja!“ ruft sie und öffnet das Tor so, daß er gerade hindurch paßt. „Gibt’s das Leinöl hier noch irgendwo im Ort zu kaufen?“ frage ich. „Nein, das gibt’s nur hier.“ Inzwischen steht neben mir noch ein Mann. „Ich komme den Wasserzähler ablesen, der Termin ist angemeldet.“ „Bei mir ist nichts angemeldet, Sie haben Glück, daß ich gerade da bin!“ Sie läßt auch ihn hinein. Ich fasse mir ein Herz. „Sehen Sie eine Möglichkeit, mir vielleicht ausnahmsweise etwas Leinöl zu verkaufen? Ich bin extra von Cottbus mit dem Rad…“ Ich versuche, erschöpft auszusehen, 20 km sind ja keine Anstrengung für mich. Es gelingt mir nicht. Sie scheint trotzdem Mitleid zu haben. „Dann müssen Sie sich beeilen, ich habe nicht viel Zeit!“ Ich sprinte hinter ihr her in den Verkaufsraum. Sie ist schon mit dem Ableser im Nebenraum verschwunden und ruft: „Ich habe aber nur kleine Flaschen!“ „Ich habe Flaschen mit!“ rufe ich zurück. Sie kommt an den Tresen, ich habe die Flaschen schon hingestellt, schließlich kenne ich mich aus. „Die hier braucht einen neuen Verschluß,“ sage ich, „der ist überdreht.“ Ungerührt läßt sie das Öl in die Flaschen laufen. Sie verschließt die Flaschen und bemerkt dann den defekten Verschluß, während ich ratlos zusehe.

„Ja, der ist kaputt, habe ich doch gesagt!“ „Wie soll ich das jetzt machen, mit Öl drin?“ Mein Vorrat an Verständnis und Geduld sinkt schlagartig auf null, während sie schimpft: „Junger Mann, ich muß Kaffee für die Handwerker machen und dann an die Buchhaltung! Meine Kollegin reißt mir den Kopf ab, ich sollte schon längst weg sein!“ Sie reicht mir eine Plastiktüte. Jetzt geht bei mir die rote Lampe an: „Soll ich dann das Leinöl aus der Tüte zutschen, oder wie?“ Sie stöhnt und entleert die Flasche wieder. „Wie soll ich das jetzt abkriegen?“ „Mit einem Messer.“ „So ein Messer hab‘ ich nicht!“ „Sie werden doch ein Küchenmesser haben!“ Sie holt mir eines, ich schneide flink den Verschluß von der Flasche. Sie füllt sie wieder, drückt den Verschluß drauf und stöhnt: „Nein, jetzt kommen noch mehr Leute, wie werde ich die los? Die Handwerker sind zu doof, das Tor zu schließen!“ Daß sie selbst das Tor hinter sich offen ließ, entgeht ihr offensichtlich. Ich bezahle. „Gucken Sie sich das an!“ sagt sie, als ob ich etwas dafür könnte. „Da kommen gleich noch zwei, denen habe ich unterwegs den Weg gezeigt“ erkläre ich. „Bloß nicht!“ sagt sie und scheucht den Ableser und mich aus dem Raum. Vor der Tür steht ein Paar und studiert die Karte. „Heute ist zu“ sage ich zu der Frau. „Das haben uns jetzt schon fünf Leute gesagt!“ entgegnet sie heftig. „Ach, manche Sachen kann man nicht oft genug hören. Wenn Ihr Mann Ihnen sagt, daß er Sie liebt, hören Sie das bestimmt gern öfter als sechs mal!“ Ihr bleiben die Worte im Hals stecken, der Mann grinst. Er blickt auf meine Flaschen. „Sie haben aber etwas bekommen.“ „Ja, ich habe es mit Drohungen versucht, das hat aber nicht funktioniert. Erst, als ich ein Gebet sprach, hat’s geklappt!“ Er schaut mich an, als könnte ich die Lottozahlen vorhersagen.

Vor der großen Schinkelkirche halte ich nochmal an, setze mich in den Schatten und lasse die Welt per Twitter an meinem Erfolg teilhaben. Das Seniorenpaar von unterwegs biegt um die Ecke. „Der Mann von vorhin!“ ruft sie ihm zu. „Weiß ich doch!“ sagt er. „Geht’s hier nach Lübben?“ fragt die Frau. Ich bejahe. „Und zur Mühle?“ fragt er. „Geradeaus!“ sage ich, während sie schon ruft: „Komm jetzt!“ „Die Mühle ist heute sowieso zu!“ „Macht nichts, wir waren ja schon mal da….“ ruft er, während sie weiterfahren. Was für ein Glück für die Frau an der Mühle.

feuchte Aufregung

Wenn ich morgens aufwache hoffe ich, daß es ein aufregender Tag wird, wenn die Nacht es schon nicht war. Doch wie heißt es? „Bedenke deine Wünsche, sie könnten in Erfüllung gehen!“

Der Tag begrüßt mich mit einem blauen Himmel, nur wenige Wölkchen, und es ist nicht mehr so heiß wie in den letzten Tagen. Prima, denke ich, da kann ich ein paar Wege erledigen ohne zu schwitzen, und überhaupt, heute mache ich nur ganz wenig, und garantiert nichts, was mich anstrengt. So schlendere ich gut gelaunt durch die Stadt, bleibe hier und da stehen, schaue und genieße den Tag. Auf dem Heimweg verdunkelt sich der Himmel, einige Tropfen fallen schon, und zum Schluß muß ich mich sogar sputen, um nicht naß zu werden. Was soll’s, sage ich mir, ich bin im schützenden Haus, hoch genug, um vor jedem Hochwasser sicher zu sein. Mit einem Kaffee mache ich es mir auf dem Balkon bequem und schaue dem beginnenden Unwetter zu. Alle Gewitter der letzten Wochen machten seltsamerweise einen Bogen um mein Wohnhaus, rechts und links zuckten die Blitze und es regnete, aber direkt über meinem Haus blickte ein wolkenloser Himmel auf mich herab. Heute aber scheint es anders zu sein, plötzlich kommt ein heftiger Wind auf und jagt mich ins Zimmer. Der Regen gleich darauf fällt so dicht, daß ich kaum noch die Häuser auf der anderen Straßenseite sehe. Innerhalb kurzer Zeit spülen reißende Bäche den Straßendreck weg. Endlich, denke ich, endlich wird die Straße mal richtig sauber. Doch das Wasser ist zu viel für die Kanalisation, brodelnd sprudelt es aus den Schächten hervor. Was für ein Schauspiel! Autos bleiben stehen, Menschen suchen unter dem Dach der nahen Tankstelle Zuflucht; längst ist die Straße nicht mehr zu sehen, ja selbst die Bordsteine und die Rasenflächen vor dem Haus sind unter einem großen See verschwunden. Die Feuerwehr rückt aus, ein Lkw der Müllabfuhr bahnt sich tapfer einen Weg durch die Fluten und verschwindet hinter dem Regenvorhang. Ein leichtsinniger Radfahrer mit Regenschirm in der Hand versucht, die Wasserwüste zu durchqueren, scheitert aber an einem unsichtbaren Hindernis und steht bis an die Waden im Wasser. Ich hole mir noch einen Kaffee und beobachte fasziniert, wie die Welt vor meinem Fenster untergeht. Über Twitter dürfen alle daran teilhaben.

Natürlich sollen sie auch erfahren, wie es auf der anderen Seite des Hauses aussieht. Ob die Rasenfläche, über der sonst meine Wäsche zum Trocknen hängt, wohl ebenfalls unter Wasser steht? Es regnet noch immer, allerdings schon deutlich weniger. Ich stecke vorsichtig meinen Kopf aus dem Fenster und erschrecke. Aus den Hauseingängen springen Menschen mit Wassereimern hervor, entleeren sie und verschwinden eiligst wieder. Wassereinbruch im Keller! schießt mir durch den Kopf, gleichzeitg versuche ich, mich zu erinnern, welche Schätze in meinem Keller bedroht sind. Alte Kontoauszüge? Verjährte Steuererklärungen? Verblasste Hochzeitsbilder, von denen ich nichtmal mehr das Datum weiß? Mein Fahrrad ist Nässe gewohnt, weiterer Schaden ist nicht zu befürchten, außer, daß die Entsorgung feuchten und modernden Papiers wohl mehr Zeit kosten wird als jetzt mal nach dem Rechten zu sehen. Erleichtert stelle ich fest, daß mein Keller trocken ist, aber die alte Dame, die unter mir wohnt, kämpft mit dem Besen gegen die Pfützen in ihrem Keller. Der ist allerdings in entgegengesetzter Richtung abschüssig, sodaß sie nur mühsam vorankommt. Mit Eimer und Müllschippe dränge ich mich ihr auf, nach zehn Minuten ist die Flut gebannt, der Rest wird bald verdunstet sein. „Keine Ursache!“ entgegne ich leichthin auf ihren Dank und will wieder hinauf gehen, inspiziere allerdings noch die Kellerräume auf der anderen Seite des Treppenhauses. Dort kniet meine Nachbarin im Wasser und schöpft ebenfalls mit der Müllschippe zwei Eimer voll, die sie dann hinauf zum Eingang schleppt. Der Mieter von rechts unten, (mit ihm bin ich per Du, weiß aber nichtmal seinen Namen, auf dem Türschild steht Grünert/Jochhagen) fegt ihr das Wasser zu, aber aus demselben Grund, wie auf der anderen Seite, fließt es immer wieder zurück. Ich schmettere ein frohes „Moin!“ (es ist 15 Uhr) in den Keller und beteilige mich wortlos. Währenddessen schwatzen die beiden angeregt miteinander über ihre Erlebnisse in diesem Haus. „Evi, das ist ja das erste Mal, daß hier das Wasser steht!“ „Ich wohne ja erst acht Jahre hier.“ „Ich von Anfang an. 68 ist das Haus gebaut, da sind wir gleich eingezogen.“ „Dann kennst Du ja die Leute hier.“ „Und wie! Wer schon alles hier gewohnt hat! Erinnerst Du dich an die Nazis da oben?“ „Nazis waren das?“ „Na, jedenfalls hatten sie Glatzen und waren überall tätowiert. Die haben dauern lautstark gefeiert. Dann gabs Streit und sie haben sich gekloppt, die Polizei kam und nahm sie mit vor’s Haus. Dort haben sie sich wieder vertragen, sind wieder rauf und haben weiter gesoffen.“ „Und die leeren Pullen habe sie gleich aus dem Fenster gehaun!“ „Bei denen war immer war los! Aber die haben nicht lange hier gewohnt, drei, vier Monate, glaub ich.“ Wir schaufeln und laufen, schütten aus und schaufeln wieder. Das Wasser scheint eher mehr als weniger zu werden. Ich erfahre nebenbei die Ereignisse der letzten Jahre. Und etwas über meine Nachbarin, die ich nur selten treffe. Offensichtlich ist sie Schichtarbeiterin. „Ich brauche ’ne Pause!“ ruft sie plötzlich. „Will jemand ein Bier?“ „Ich lasse mich gern einladen!“ sage ich. Wir prosten uns zu und wischen nach den ersten Schlucken den Schweiß aus dem Gesicht. Dann wendet sich der Mann von unten rechts mir zu und sagt: „Und in Deiner Wohnung hat’s gebrannt!“ „Was?“ entgegene ich erstaunt. „Ist doch gar nichts zu sehen! Wann war denn das?“ „2008, wa, Evi?“ „Ja, ich war auf dem Balkon, es roch irgendwie verschmort. Ich dachte, die hat ihre Zigarette nicht ausgemacht, die hat doch immer auf dem Balkon geraucht, da stand doch der Aschenbecher in der Ecke.“ „Ich habe bei der Besichtigung keinen gesehen“ sage ich, „vor mir wohnte doch ’ne junge Frau drin, der der Freund abhanden kam.“ „Das war schon vor ihr. Pötzlich war alles schwarz, der Balkon und das Wohnzimmer. Die Wohnung stand dann mindestens sechs Monate leer.“ Das erklärt den unterschiedliche Fußbodenbelag in den Räumen, denke ich. Mittlerweile haben wir die Flaschen geleert und die Arbeit wieder aufgenommen. Das Wasser wird weniger, inzwischen sind wir nur noch zu zweit, der Besen wird nicht mehr gebraucht. „Jetzt muß ich alles ausräumen“ sagt die Nachbarin, „zum Glück ist das Holz trocken geblieben.“ Sie sieht meinen fragenden Blick, schließlich wohnen wir im Hochhaus mit zentraler Wärmeversorgung. „Meine Freundin und ich wollen ein Lagerfeuer machen und Würstchen darin braten. Aber sie hat nie Zeit!“ Wir schieben gemeinsam Sachen hin und her, ich frage: „Kann ich noch etwas für Sie tun oder kommen Sie zurecht?“ Sie hält mir die Hand hin: „Ich bin Evi.“ „Fein, in bin Ronald.“ „Ein Bier schaffen wir noch, oder?“ „Ja, klar!“ Der Mann von unten rechts schaut – frisch geduscht – nochmal vorbei. Er scheint zufrieden mit dem Ergebnis. Wir nehmen unsere Gerätschaften und gehen nach oben, dabei den Geruch nach Schweiß, nassen Klamotten und Bier verbreitend. Vor unseren Wohnungen verabschieden wir uns: „Bis demnächst mal!“ „Ja, und hoffentlich unter besseren Umständen!“.

Beim Aufschließen drehen wir uns nochmal um. „Ach, übrigens,“ sage ich, „wenn Du mal jemanden brauchst, der ein Lagerfeuer anzünden und Würstchen am Stock braten kann – einfach klingeln!“