illusion

Majestätisch schwebte der Adler am Himmel. Nicht immer gelang es ihm, die Maus oder gar den flüchtenden Hasen zu schlagen. Er war hungrig, sah aber Dinge, die andere niemals sehen würden. Das Huhn, das die Körner pickte, die der Bauer ihm gestreut hatte, bewunderte den kühnen Flug des Adlers. „Ach“, sprach es, „wenn ich doch nur einmal sehen könnte, was der Adler sieht!“ Der Adler rief ihm zu: „Laß deine Körner, breite die Flügel aus und steige empor! Ich will dir die grenzenlose Freiheit zeigen!“ „Ja – aber mein Futter!“ antwortete das Huhn.

Bedächtig faltete er den Brief wieder zusammen und hielt ihn in die Flamme der Kerze. Er kannte ihn auswendig. Jeden Abend hatte er ihn gelesen, das Papier mittlerweile war brüchig geworden und die Schrift verblaßt. Was war nur geschehen? Zu lange hatte er sich mit der Vergangenheit beschäftigt, es war Zeit, nach vorn zu sehen.

Der November sparte nicht mit kaltem Wind. Auch ihn hatte er von der Straße getrieben. Gern wäre er noch umher gestreift, um die beginnende Spannung zu unterdrücken. Er hoffte, dieser Abend würde aufregend werden, denn langsam, sehr langsam zwar, aber unaufhaltsam und unerbittlich wie das Pendel einer Uhr glitt sein Leben dem Ende entgegen. Manchmal, so sagte er, sähe er „wie die Zielfahne geschwenkt würde“. Er lebte gern, und er wollte sich nicht geschlagen geben, ehe er nicht noch dem Leben einen Genuß abgetrotzt hätte.

Das, aber nicht allein das, war der Grund für dieses Treffen. Die Frau, die auf seine Annonce geschrieben hatte, mußte mindestens genauso verrückt sein wie er.

Als er sie sah fühlte er sich sofort wie ein Konfirmand – zu schüchtern, seine Angebetete anzusprechen. In ihrem Brief hatte sie sich selbst als optimistisch und unwiderstehlich bezeichnet, ihm hingegen erschien sie faszinierend und begehrenswert. Ihre Augen strahlten auf unbeschreibliche Weise Wärme, aber auch eine unbestimmte Reserviertheit aus, die ihn sofort gefangen nahm.

Sie sprachen über ihre Macken, redeten über ihre Träume und Wünsche, betrachteten das Leben von allen Seiten, und er konnte seine Augen nicht von ihr wenden. Ihr Lachen und ihre Grübchen ließen seinen Verstand zu einem kümmerlichen Rest schmelzen. Er spürte, wie er ihr erlag. Dabei teilte sie nicht einmal seinen Musikgeschmack, las nur selten ein Buch und konnte sich auch an die einzige Oper, die sie jemals gesehen hatte, nicht erinnern. Aber so begierig, wie sie seinen Worten lauschte und seinen Ansichten über das Leben folgte, fühlte er, sie könnte die Frau sein, die seine Träume und Sehnsüchte verstehen und vielleicht sogar teilen würde.

Rational betrachtet“, pflegte er gern zu sagen, „ist Liebe nichts anderes als das Leben verkomplizierende Biochemie“. Aber als sie ihm erzählte, daß sie oft in Gedanken stundenlange Dialoge führe, machte sein Herz einen Satz. Sie wußte, wie es ist, nicht in den Schlaf zu finden! Er fühlte sich ertappt und getröstet zugleich. Augenblicklich fiel ihm Heine ein:

Keiner ist so verrückt, daß er nicht einen noch Verrückteren fände, der ihn versteht.“

Konnte es sein, daß sie ihn verstand? Trotzdem spürte er, wie sie zurückhaltend, vielleicht sogar mutlos war. Sie glaubte wohl, wenn sie ihr bisheriges Leben hinter sich ließe, würde sie ihren hart erarbeiteten Wohlstand nicht halten können. Ihren Wohlstand konnte er nicht schützen, doch er wollte ihr zeigen, wie seine Zuneigung, seine Gefühle und beider Hingabe ihr Leben dennoch bereichern würden. Ihr Leben würde zuletzt Gewinn sein – Gewinn für ihre Seele.

In dem kleine Café waren sie als einzige Gäste übrig geblieben. Als der Kellner mit der barschen Bemerkung, nun endlich schließen zu wollen, die Rechnung brachte, mußten sie sich trennen. Sie verabschiedete sich von ihm mit einer langen Umarmung, und erklärte, diesen Weg mit ihm gehen zu wollen. Dann ging sie.

Er hatte nicht gefragt, wann dieser Weg beginnt. Als er sich besann und noch einmal zu ihr umdrehte, war sie bereits seinen Blicken entschwunden. Ihren Namen hatte sie nicht verraten. Niemals wieder hörte er von ihr.

„… mit diesem – EINEN – träumen, reden, versinken …“ waren die letzten Worte ihres Briefes. Worte unausgesprochener Sehnsucht. Am Ende, dachte er, war die Sehnsucht unterlegen. Den sicheren Körnern.